Kopftuchstreit

In Deutschland wurde der Streit um das Kopftuch in der Schule vom Verfassungsgericht an die Landes-Parlamente weitergereicht. Die Lehrerin Fereshda Ludin hat damit vorläufig Recht bekommen, aber nur insofern, als die Gesetze von Baden-Württemberg für ein Kopftuchverbot nicht ausreichen. Die Richter haben nicht darüber befunden, was schwerer wiegt, die Religionsfreiheit von Ludin oder die Neutralitätspflicht der Schule. Sie haben aber durchblicken lassen, dass es möglich ist, die Religionsfreiheit gesetzlich einzuschränken. Die Landesparlamente können nun also entsprechende Gesetz schaffen elf Länder haben ein solches Gesetz bereits in Angriff genommen. Absehbar ist, dass ein solches Gesetz angefochten wird. Das könnte sich als Chance erweisen: Es wird kaum möglich sein, ein Gesetz zu entwerfen, das vor dem Verfassungsgericht bestehen kann, ohne alle religiösen Symbole gleich zu behandeln. Insofern könnte der jetzige Entscheid bahnbrechend sein für die Kruzifix-Frage.

Meinungswandel?

Der Kommentar in der Wochenzeitung Die Zeit (25.9.2003) lässt nun aber aufhorchen. Dort war zu lesen: Fünf Jahre öffentlicher Streit, fünf Jahre Gerichtsprozesse haben die Meinung gewandelt. Sagten die meisten noch 1998, als der Fall Ludin aufkam, Nein zum Kopftuch in der Schule, antworten sie heute mehrheitlich mit Ja. Und zwar knapp 85 Prozent, allerdings nicht repräsentativ, wie eine Umfrage der ARD vom August ergab. Es seien vor allem auch die christlichen Kirchen, welche sich für die Muslimin Ludin einsetzen würden. Ihr Argument Im weltanschaulich neutralen Staat würde dann vielleicht auch deutlich, dass neben den grossen christlichen Kirchen und der jüdischen Gemeinschaft inzwischen die dritt-grösste Religionsgemeinschaft zwar da und sichtbar ist, tatsächlich aber im Namen der Neutralität diskriminiert wird.

«Helle» Seite des Kopftuchs?

Im gleichen Artikel vertritt der Autor etwas gar schwärmerisch die Ansicht, dass es neben der zugegebenermassen «dunklen Seite» des Kopftuches, die gegen die Menschenwürde verstosse, eben auch eine «helle Seite» gebe. Diese soll darin bestehen, dass Musliminnen das Tuch freiwillig anziehen, weil sie sich wie Christen mit dem Kreuz oder Juden mit der Kippa offen zu ihrer Religion bekennen wollen. Dann stifte das Kopftuch Identität und stärke die Selbstachtung. Zudem würden viele muslimische Frauen glauben, sich mit verhülltem Haar in fremder Umgebung freier bewegen zu können. Das ist genau der Punkt: Wenn Frauen sich mit dem Tragen des Kopftuchs freier fühlen, dann ist das eben gerade kein freies Bekenntnis sondern eine Unterwerfung unter ein nicht selbstbestimmtes Frauenbild. Kein Mann würde seine Kleidung je so begründen.

Neutralität oder Laizität?

Der Kommentator macht anschliesssend einen Unterschied zwischen dem Neutralitätsgebot der deutschen Verfassung und dem strengen Laizismus etwa französischer Prägung. Neutralität bedeute lediglich angemessene Zurückhaltung: Sie verbietet Missionierung, Indoktrination und Bevorzugung eines Glaubensbekenntnisses. Mehr nicht. Ansonsten lässt sie den vielfältigen Glaubensformen und Meinungen freien Lauf. Sie aus dem Klassenzimmer zu verbannen erzeugt nicht Neutralität, sondern Sterilität. Neutralität muss sich jedoch auch im Erscheinungsbild ausdrücken. Wir wünschen ebensowenig Ordensschwestern oder andere uniformierte Menschen als Lehrkräfte.

Gelebte Religiosität in der Schule?

Weiter ist in der Zeit zu lesen: Zum Bildungsprozess gehört nicht nur die abstrakte Debatte über Religionen, sondern ebenso die konkrete Auseinandersetzung mit der gelebten Religiosität der Erziehenden. Je intensiver, je offener, desto besser. Die Kinder sollen den Anderen nicht anstarren, weil er fremd ist, sondern lernen, dass er mitten unter ihnen lebt. Auch die Lehrerin mit dem Kopftuch gehört dazu. Vor möglichen Grenzüberschreitungen schützen Schulaufsicht und Disziplinarrecht.

Das erscheint doch reichlich blauäugig: Wenn eine Person sich mit einer Religion so stark verbunden fühlt, dass sie dies durch eine besondere Kleidung demonstrieren will, so sei ihr das im Privatleben unbenommen. Wer aber ein derartiges Demonstrationsbedürfnis hat, gehört nicht in eine staatliche Funktion. Dabei ist weniger zu befürchten, dass im Falle von Ludin nichtmuslimische Kinder Schaden nehmen könnten. Vielmehr ist die Wirkung einer Kopftuch tragenden Lehrerin auf die muslimischen Mädchen das eigentliche Problem.

Integration nicht gefährden

Heute muss offenbar die Frage der Integration neu gestellt werden, nachdem sich gezeigt hat, dass wirkliche Chancengleichheit für Migrantinnen und Migranten nicht erreicht werden kann, wenn wir mithelfen, sie auf ihre Herkunft festzuschreiben. Deshalb muss die Schule als Integrationshilfe ersten Ranges vor solchen falschen Signalen bewahrt werden. Es wird in der Folge unvermeidlich sein, dass religiös geprägte Privatschulen aufgebaut werden. Dieser Tendenz, die derzeit auch in christlichen Kreisen besteht, kann ein liberaler Staat nichts entgegenhalten. Langfristig muss auf die Integrationskraft der «Secondas» vertraut werden.

Reta Caspar in Freidenker 11/03

Diskussionsstand in anderen Staaten Europas

Schweiz

Eine Genfer Primarlehrerin, die seit 1990 unterrichtete, konvertierte 1991 vom Katholizismus zum Islam und trug später drei Jahre lang während des Unterrichts das islamische Kopftuch, was ihr die Behörden 1996 untersagten. Das Bundesgericht bestätigte diese Entscheidung 1997. Die Lehrerin zog daraufhin vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Dieser entschied im Februar 2001, dass das Verbot weder gegen die Religionsfreiheit noch gegen das Diskriminierungsverbot verstösst.

Frankreich

Das Gesetz zur Trennung von Staat und Kirche von 1905 untersagt allen Beschäftigten im öffentlichen Dienst, in Ausübung ihrer Funktion Zeichen ihrer religiösen Zugehörigkeit zu tragen. Muslimische Lehrerinnen mit Kopftuch gibt es deshalb in Frankreich nicht. Derzeit wird aber diskutiert, ob das Tragen des Kopftuches auch Schülerinnen generell verboten werden soll. Die Rechtslage ist derzeit nicht ganz klar, die schwierige Auslegung liegt im Ermessen der Schulleitung, was jedes Jahr zu Dutzenden von Streitfällen führt.

Italien

Für italienische Staatsbedienstete gilt eine Kleiderordnung, die aber nichts über religiöse Kleidung besagt. öffentliche Schulen dürfen allerdings über ihre Angelegenheiten so auch Kleidungsregeln selbstständig entscheiden. Über eine Debatte über muslimische Kopftücher an Schulen ist nichts bekannt.

Dänemark

In Dänemark, wo 4% der 5,3 Millionen EinwohnerInnen muslimischen Glaubens sind, gilt kein Kopftuch-Verbot an Schulen. In diesem Sommer startete die rechtsgerichtete Dänische Volkspartei den Versuch, ein Gesetz zu initiieren, das Kopftücher, aber auch alle anderen Arten von Kopfbedeckungen etwa Baseball-Kappen in Schulen verbietet. Die Regierung wies das Vorhaben zurück, woraufhin die Debatte wieder versiegte. Daneben gibt es einige Gerichtsurteile, wonach Unternehmen etwa ein Supermarkt und ein Warenhaus Angestellte, die Kopftücher tragen, nicht entlassen dürfen. Die Unternehmen mussten Strafen bis zu 10'000 Kronen (1'346 Euro) bezahlen.

Schweden

In Schweden waren Kopftücher an Schulen bisher kein Thema und es gibt kein entsprechendes Gesetz. Allerdings gab es eine Debatte über muslimische Kopftücher in Fernsehsendungen. Im vergangenen Jahr wurde der öffentliche Sender SVT dafür kritisiert, dass er einer Muslimin die Moderation einer Sendung für Einwanderer untersagen wollte, weil sie ein Kopftuch trug. Der Sender verwies auf seine Vorschrift, wonach Moderatoren keine Kleidung tragen dürfen, die vom Inhalt der Sendung ablenken könnte. Später änderte SVT allerdings diese Vorschrift. Nun dürfen Frauen in allen Sendungen ausser den Nachrichten Kopftücher tragen. Nachrichten-ModeratorInnen müssen nach wie vor «neutrale Kleidung» tragen, das heisst keine Kleidung, die irgendwie mit ihrer Religion in Verbindung steht.

Russland

In Russland gab es eine Debatte um Kopftücher auf Fotos für offizielle Dokumente. Als die Behörden 2002 neue Pässe ausgaben, hat die russische Polizei Kopfbedeckungen auf Fotos für Pässe verboten. Daraufhin klagten zehn Frauen aus der überwiegend muslimischen Republik Tatarstan vor dem Obersten Gerichtshof. Dieser wies die Klage im März dieses Jahres zunächst zurück, entschied dann aber im Mai zu Gunsten der Frauen. Das Innenministerium kritisierte die Entscheidung und kündigte an, dagegen vorzugehen.

Türkei

In der überwiegend islamisch geprägten Türkei gilt eine strikte Trennung von Staat und Religion. Kopftücher werden als politisches Statement gewertet. Deshalb sind sie an staatlichen Schulen generell verboten, weder Lehrerinnen noch Schülerinnen dürfen sie tragen.

Quelle: Der Spiegel, 24. September 2003

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