Ruf nach mehr Bullshit-Erkennungskompetenz

Die Desinformationsflut in den Medien, Suchmaschinen und sozialen Netzwerken lässt sich als Ergebnis medienökonomischer Entwicklungen verstehen, die stark von der Digitalisierung geprägt sind. Verantwortlich für eine Verbesserung der Situation sind aber nicht nur die Plattformen der Informationstechnologie-Giganten, sondern auch die Politik und das Publikum.

von Prof. Stephan Russ-Mohl (veröffentlicht im frei denken 4/19)

Je abstruser die Lügengeschichten, desto mehr Anklang finden sie oftmals in den virtuellen Resonanzräumen. Leider geht es aber nicht nur um platte Falschnachrichten. Neben frei Erfundenem sind Viertel- und Halbwahrheiten, Konspirationstheorien, Hassbotschaften, Propaganda – kurz: Desinformation in vielerlei Spielarten zur Pest der digitalisierten Medien und damit auch zu einer ernsten Bedrohung unserer Demokratie geworden. Seit Trumps Wahl zum US-Präsidenten und seit dem Brexit-Votum in Grossbritannien und der Rolle, die dabei im Vorfeld Desinformation gespielt hat, gibt es keine Zweifel mehr: Wir müssen uns der Herausforderung stellen, wie sich mentale Umweltverschmutzung eindämmen lässt.

Zwei Trends, die sich überlagern, haben dazu geführt, dass wir es mit einer neuen Dimension des Problems zu tun haben. Der erste, der Vertrauensverlust der Medien, war bereits in den 1990er-Jahren beobachtbar: In Deutschland hatten die öffentlich-rechtlichen Fernsehsender Mitte der 1960er-Jahre begonnen, in Mehrjahresabständen messen zu lassen, wie das Publikum die Glaubwürdigkeit von Medienberichterstattung wahrnimmt. Die ermittelten Werte in dieser «Langzeitstudie Massenkommunikation» zeigten schon damals regelmässig nach unten. Je nachdem, welcher Umfrage man sich in der Gegenwart bedient, geht es weiter in den Keller oder die Werte stabilisieren oder erholen sich gelegentlich auf erschreckend niedrigem Niveau. Wobei die Schweiz bei solchen Studien regelmässig besser abschneidet als ihre Nachbarn.

Die Übermacht der Public Relations

Der langfristige Glaubwürdigkeitsverlust dürfte damit zu tun haben, wie Journalismus über Jahrzehnte hinweg von Public Relations umgarnt und durchdrungen wurde. 1998 präsentierte der österreichische Sozialforscher Georg Franck sein Konzept der «Aufmerksamkeitsökonomie». Er zeichnete nach, wie Institutionen, aber auch Prominente, Politiker und CEOs immer mehr nach Präsenz in der Öffentlichkeit gieren. Diese wachsende Konkurrenz um Sichtbarkeit hat den öffentlichen Raum verändert. Weil Aufmerksamkeit knapp ist und sich in Geld oder Macht ummünzen lässt, wurde und wird immer mehr investiert, um sie zu generieren. Zugleich sank die Bereitschaft der Mediennutzer, für Journalismus zu bezahlen, sodass viele Redaktionen zu schrumpfen begannen. In Amerika steht den Journalisten inzwischen eine fünf- bis sechsfache Übermacht an PR-Experten gegenüber. Für den deutschsprachigen Raum fehlen Vergleichszahlen, aber es ist kaum zu bezweifeln, dass eine ähnliche Kräfte- und Machtverschiebung auch bei uns stattfindet.

Desinformationsökonomie

Zunehmende Konkurrenz um Aufmerksamkeit allein reicht allerdings nicht aus, um zu erklären, weshalb sich die Aufmerksamkeits- zur Desinformationsökonomie weiterentwickelt. Es muss sich vielmehr für viele Akteure wirtschaftlich oder machtpolitisch lohnen, durch Falschmeldungen Aufmerksamkeit zu erzielen und Einfluss zu gewinnen – und zwar so massiv, dass Wahrheitsfindungsversuche von Journalisten und Wissenschaftlern ins Hintertreffen geraten. Genau dies wurde mit dem zweiten Trend erreicht: Im Zuge der Digitalisierung haben sich Suchmaschinen und soziale Netzwerke in atemberaubendem Tempo ausgebreitet. Facebook, YouTube, Instagram und andere Plattformen behandeln «Content» erst einmal trotz gegenteiliger Beteuerungen gleich – egal ob er stimmt oder nicht. Hauptsache, er erzielt Klicks und hilft, im Beipack Werbebotschaften zu lancieren. So beraubten die Tech-Giganten herkömmliche Medienunternehmen ihrer lukrativsten Erlösquelle, der Werbeeinnahmen, weil sie die Zielgruppen der Werbetreibenden mit deutlich geringeren Streuverlusten erreichen können.

Mit den sozialen Netzwerken und Suchmaschinen konnten sich Falschnachrichten auch im Journalismus viral verbreiten. Donald Trump betreibt über Twitter ohne Rücksicht auf Kollateralschäden Direktkommunikation mit seiner riesigen Gefolgschaft und zwingt die etablierten Medien, seine Botschaften aufzugreifen. Sein «Erfolgsmodell» politischer Kommunikation findet inzwischen weltweit Nachahmer. Es sind indes nicht nur Populisten, die die Möglichkeiten nutzen, sogenannte «alternative Fakten» zu setzen. Auch autoritäre Regimes, allen voran der Kreml, schleusen raffiniert Desinformation in die Medien ein, die oftmals kaum als Propaganda erkennbar ist. Sie unterhöhlen so westliche Demokratien, indem sie Unfrieden säen und Politikverdrossenheit schüren. Zu Hilfe kommen ihnen dabei Text-Roboter, sogenannte Social Bots. Sie können in sozialen Netzwerken bestimmte Meldungen «pushen» und ihre eigenen Kurztexte und Kommentare tausendfach variieren.

Gegenwehr

Ob und wie sich die Desinformationsepidemie wirksam bekämpfen lässt, wissen wir derzeit noch nicht – «Impfstoffe» müssen erst gefunden werden. Immerhin ist in letzter Zeit einiges in Bewegung geraten: Forscher des Duke Reporters‘ Lab zählten 2019 weltweit 188 Factchecking-Websites. Aber lässt sich damit genügend Resonanz erzielen? Gerade besonders absurde Nachrichten und Verschwörungstheorien verbreiten sich entweder so schnell viral, dass sie durch Berichtigungen kaum noch einzuholen sind, oder auch mitunter erst dann, wenn es Bemühungen gibt, sie als solche zu enttarnen. Weitere Forschungen belegen überdies, wie sehr die Echokammern im Netz gegeneinander abgeschirmt sind: Faktenchecker erreichen zwar Gleichgesinnte, aber nicht die eigentlichen Adressaten von Berichtigungen.

Wichtiger wären deshalb wohl im medialen Alltagsgeschäft vermehrte «Allianzen zur Aufklärung» zwischen Wissenschaftlern und Journalisten, um insbesondere bei strittigen Themen schon im Vorfeld möglicher Desinformation entgegenzuwirken. Als weiteren Vorschlag zur Bekämpfung der Epidemie forderte der Publizist Miloscz Matuschek mehr «Bullshit-Erkennungskompetenz», sprich: mehr Medienkunde an Schulen. Dafür braucht es allerdings absehbar Jahre. Es wäre ja erst einmal den Lehrern beizubringen, was sich derzeit selbst hochspezialisierte Medienforscher nur mühselig und partiell an gesichertem Basiswissen anzueignen vermögen.

Fehler korrigieren

Ein Teil der medienpädagogischen Initiativen sollte deshalb aus verstärkten Aktivitäten der Medien selbst bestehen. Die Medienbranche hat weithin den «C»-Bereich vernachlässigt: Es ist und bleibt essenziell, Fehler zu korrigieren («Correction Policies»), sich um Beschwerden über die Berichterstattung zu kümmern («Complaints Management») und dem Journalismus und den Medien in der Medienberichterstattung mindestens genauso viel Aufmerksamkeit zu widmen («Coverage of Media by the Media») wie dem sonstigen Kulturbetrieb, wenn man die Entwicklung drehen und journalistische Glaubwürdigkeit zurückgewinnen möchte.

Europäische Herausforderungen

Wenn die EU es ernst meint mit Desinformationseindämmung, sollte sie, statt über neue Behörden zur Fake-News-Bekämpfung nachzudenken und selbst Millionen in PR zu investieren, den Journalismus fördern. Und zwar in einer Weise, die dessen Unabhängigkeit und Kompetenz steigert, also mit Investitionen in Aus- und Weiterbildung sowie in mediale Infrastrukturen wie Selbstkontrollorgane, Medienforschung und Forschungstransfer. Die EU hätte auch vermehrt aufzupassen, dass der Journalismus – wie in einigen Ländern Ost- und Südeuropas – nicht mehr und mehr von Oligarchen gesteuert wird, die ihrerseits Handlanger und Günstlinge politischer Machthaber sind. Journalistische Stimmenvielfalt und Kritikfähigkeit mutierte so in Ländern wie Ungarn und Polen zu immer mehr propagandistisch-medialem Einheitsbrei.

Gerade weil sich die Journalismus-Kulturen in Europa so krass unterscheiden und weil es bisher keine «europäische Öffentlichkeit» gibt, hätte der öffentlich-rechtliche Rundfunk an vorderster Front Desinformation zu bekämpfen. Durch entsprechende mehrsprachig ausgestrahlte Nachrichten- und Programmangebote könnte er dem europäischen Projekt neue Schubkraft verleihen. Wie man das macht, lässt sich nicht zuletzt vom viersprachigen Programm-und Integrationsangebot des öffentlichen Rundfunks in der Schweiz lernen.

Prüfen vor dem «Liken»

Wir alle haben uns von den wunderbaren Scheinbar-Gratis-Offerten der IT-Giganten längst existenziell abhängig gemacht. Wegzudenken sind sie aus unserem Leben nicht mehr. Aber etwas verantwortungsvoller umgehen mit den sozialen Medien könnte jeder von uns schon. Wir sollten selbst prüfen, bevor wir impulsiv etwas «liken». Wir sollten vorsichtiger Postings teilen – und vor allem uns unseres eigenen «Confirmation Bias» bewusst werden, der dazu führt, dass wir Nachrichten bevorzugen, die unsere Vorurteile bestätigen. Und wir sollten uns bewusst sein, dass die Algorithmen uns so bedienen, dass wir uns in unserer Filterblase möglichst wohlfühlen und uns so möglichst lange im jeweiligen sozialen Netzwerk tummeln. Vielleicht sollten wir einfach in unseren «Freundeskreis» ein paar Leute aufnehmen, die nicht die eigenen Überzeugungen teilen.


Stephan Russ-Mohl war bis 2018 Professor für Journalistik und Medienmanagement an der Universita della Svizzera italiana in Lugano. Er gründete das European Journalism Observatory.

 

BUCHTIPP
Stephan Russ-Mohl
Die informierte Gesellschaft und ihre Feinde. Warum die Digitalisierung unsere Demokratie gefährdet. Erschienen 2017, 368 Seiten. Herbert von Halem Verlag.
ISBN 978-3-86962-274-3. Erhältlich z.B. hier.