"Atheismus ist kein Glaube"

Andreas Kyriacou, Zentralpräsident der Freidenker, über eine laizistische Schweiz:

Schaffhauser AZ, Mattias Greuter

Andreas Kyriacou, was ist ein Freidenker? Darauf gibt es wohl so viele Antworten, wie wir Mitglieder haben. Ein Grundkonsens ist, dass ein Freidenker eher rationale Erklärungen für das hat, was bei den Religionen die grossen Sinnfragen sind. Ein Freidenker ist der Auffassung, dass religiöse Welterklärungen in der Gegenwart nicht mehr nützlich sind, weil sie uns die Welt nicht mehr erklären. Wir versuchen, die rationalen Erklärungen aufzuzeigen und die Wissenschaft auf die Bühne zu holen.

Bezeichnen Sie sich als Atheist oder als Agnostiker? Wenn ich gefragt werde, sage ich 'Atheist'. Ich brauche dieses Label aber nicht aktiv, weil es über das Negieren eines anderen Konstruktes funktioniert. Die meisten Freidenker sind Atheisten oder Agnostiker, wobei die beiden sich in etwa die Waage halten dürften. Was alle verbindet, ist der Laizismus, also das Einstehen für die Trennung von Kirche und Staat und das kritische Hinterfragen der Sonderrolle von einzelnen Religionsgemeinschaften.

Wen vertreten die Freidenker? Wir können für uns in Anspruch nehmen, dass wir die Anliegen der Konfessionslosen vertreten, und dies auch in der Politik, soweit es unsere Ressourcen zulassen. Das heisst aber natürlich nicht, dass sich alle Konfessionslosen uns verbunden fühlen müssen – Mitglieder von Freikirchen sind ja nach offizieller Statistik auch konfessionslos. Aber es gibt einen grossen und wachsenden Anteil von Leuten, die religionsfern sind und es beispielsweise befremdend finden, dass im Kanton Bern die Pfarrerlöhne vom Staat gezahlt werden – immerhin 74 Millionen Franken jährlich, ohne Leistungsauftrag. Wir vertreten auch Leute, die sich fragen, ob die Sport-, Kultur- und Tanzverbote an hohen christlichen Feiertagen im Kanton Zürich noch sinnvoll und zeitgemäss sind.

Werden diese Verbote je durchgesetzt, wenn beispielsweise jemand am Pfingstsonntag ein weltliches Konzert durchführen will? Im Kanton Zürich gab es im Jahr 2000 eine erste Liberalisierung: Was innerhalb eines Gebäudes stattfindet, ist von diesem Verbot nicht mehr betroffen. Aber es gab 2011 einen Fall, als ein Rugby-Club zwei gegnerische Teams aus Basel und Schaffhausen für Turnierspiele eingeladen hatte. Erst wenige Stunden vor geplantem Spielbeginn, nachdem die Stadt die Spielbewilligung längst erteilt hatte, teilte der Platzwart mit, dass es sich beim Spieltag um den Bettag, den dritten Sonntag im September, handelte. Die Spiele wurden also sehr kurzfristig untersagt. Das Spiel gegen die Basler wurde um einige Wochen verschoben, der Match gegen die Schaffhauser konnte hingegen noch am gleichen Tag in Schaffhausen durchgeführt werden – die Spieler wussten, dass es hier kein solches Verbot gibt.

Aus der Idee 'Trennung von Kirche und Staat' kann man ziemlich radikale Forderungen ableiten, man denke beispielsweise an die Existenz von kirchlichen Feiertagen. Wie weit gehen Sie in solchen Fragen? Ich denke, die Privilegien von christlichen Institutionen sind problematischer als Kulturüberbleibsel wie Feiertage, die einen Sonderstatus haben. Ein Beispiel: Nach der Abstimmung vom 24. November werden die Landeskirchen auf Grund der Teuerung weiterhin jedes Jahr mehr Geld bekommen, obwohl die Mitgliederzahlen sinken. Das finde ich problematischer und wichtiger als die Frage, ob es auch offizielle Feiertage für andere Religionsgemeinschaften geben soll, oder ob man allen einfach zehn Freitage nach Wahl gibt.

Viele Leute sind der Ansicht, der Atheismus sei auch ein Glaube und könne fanatische Züge annehmen. Wie begegnen Sie dieser Kritik? Dort, wo Atheismus mit einer Staatsideologie verbunden ist, ist auch er ungemütlich, wie wir aus dem ehemaligen Ostblock wissen. Der Atheismus war zwar nicht das Definierende dieser Ideologien, aber in dieser Zwangsform sicher eine unerfreuliche Begleiterscheinung. Ansonsten ist natürlich nicht viel dran an der Aussage, Atheismus sei ein Glaube. Er kennt keine Dogmen, die nicht hinterfragt werden können. Leute, die sagen 'Ihr glaubt ja auch nur an die Evolutionstheorie', haben ein ziemlich spezielles Verständnis von Wissenschaft. Im System der Wissenschaft kann alles auf Grund von neuen Erkenntnissen hinterfragt werden. Jeder Religion haftet hingegen zwingend etwas Unvernünftiges an – ein treffendes Zitat, das niemandem mit Sicherheit zugeordnet werden kann, lautet: 'Ich glaube, weil es unvernünftig ist.' Der Atheismus ist kein Glaube, weil Atheisten keine unvernünftigen oder irrationalen Ideen akzeptieren müssen.

Warum brauchen Atheistinnen und Agnostiker eine Lobby? Allgemein brauchen sie keinen Verein Gleichdenkender, um sich in der Welt zurechtzufinden. Aber natürlich sind auch die Freidenker mitunter eine soziale Organisation, in der man sich austauschen kann. Dort, wo wir den Ist-Zustand hinterfragen – beispielsweise die Tanzverbote oder das Schulfach Kultur und Religion – oder an Vernehmlassungen teilnehmen, um eine nichtreligiöse Sicht einzubringen, braucht es einen gewissen Organisationsgrad.

Wie würde eine Schweiz aussehen, die nach einem laizistischen Weltbild aufgebaut wäre? Ich gehe davon aus, dass die Anzahl aktiv genutzter Kirchengebäude stark zurückgehen würde, weil sich die heutigen Landeskirchen selbst finanzieren müssen – quasi ein Gesundschrumpfen auf den Marktbedarf, ökonomisch ausgedrückt. Es gäbe wohl viele Umnutzungen von Kirchen, deren Erhalt als Bauwerk durchaus vom Staat besorgt werden könnte. Abgeschafft wäre die unkritische Privilegierung von einigen wenigen – ausschliesslich christlichen – religiösen Organisationen, an die der Staat Aufgaben delegiert, die er sich selber nicht zutraut.

Was meinen Sie damit? Etwas, was auch bei der Abstimmung in Schaffhausen ein Thema war, ist die Seelsorge, die an die Kirche delegiert ist. Das muss man hinterfragen, denn diese Abgrenzung der Seelsorge vom Medizin- und Pflegebereich ist problematisch und suggeriert, dass die Ärzteschaft und die Pflegenden sozial eher inkompetent seien. Ich will nicht ausschlies­sen, dass Kirchen in einer laizisitischen Schweiz weiterhin Betreuungsaufgaben übernehmen könnten, aber sie dürften keine Monopolstellung mehr in Anspruch nehmen. Man müsste mehr Rücksicht nehmen auf die Bedürfnisse einer heterogenen Bevölkerung.

Die Freidenker engagieren sich gelegentlich bei Abstimmungen, demnächst im Kampf gegen die Initiative 'Abtreibungsfinanzierung ist Privatsache'. Ist das wirklich eine Kernaufgabe, können sich alle Mitglieder mit diesem Engagement identifizieren? Es gibt innerhalb der Freidenker ein gewisses Meinungsspektrum, gerade im Gesundheitsbereich. Einige unserer Mitglieder würden beispielsweise für eine Einheitskasse einstehen, andere denken libertär und finden, man würde das Gesundheitswesen am besten vollständig privat organisieren. Bei der Initiative 'Abtreibungsfinanzierung Privatsache' geht es aus unserer Sicht um einen sehr selektiven Eingriff in den Leistungskatalog und um die grundlegende Frage: Behalten wir im Gesundheitswesen einen gewissen Säkularismus bei, oder sollen religiöse Moralvorstellungen einen Einfluss auf den Leistungskatalog haben? Den Initianten geht es in Wahrheit nicht um eine minime Senkung der Gesundheitskosten, sondern sie wollen ihre religiöse Überzeugung für alle verbindlich machen – hier sind die Freidenker gefordert, um einerseits diese Absichten aufzuzeigen und sich andererseits in den Abstimmungskampf einzumischen. Im Kanton Graubünden wird gleichzeitig über die Abschaffung der Kirchensteuer für Unternehmen abgestimmt – auch dort werden wir unsere Sicht einbringen.

Raten sie Atheisten davon ab, Weihnachten zu feiern? Nein. Die religiösen Riten werden bei Atheisten wohl im Hintergrund stehen, aber was das klassische Familienprogramm angeht, ist das Wort 'frei' in 'Freidenker' wichtig, jeder soll selber seine Grenzen ziehen. Wir haben für den 26. Dezember und drei weitere Tage ein kleines, säkularistisches Happening organisiert: Im Kino Riffraff wird der Film 'The Unbelievers' gezeigt, der die beiden Wissenschafter Richard Dawkins und Lawrence Krauss porträtiert.

Wie verbringen Sie die Festtage? Einen Tag im familiären Umfeld und den Rest eher ritualfrei.

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